Hendrik Haase ist Co-Autor eines faszinierenden Buches über die Verzahnung von Essen und Technologie. Haase beschreibt, was es schon gibt und was sich vermutlich noch weiterverbreiten wird. Sein Appell ist: darauf müssen wir uns einstellen – auch die Gastronomie. Wenn wir das nicht tun, werden wir zu Opfern dieser Entwicklung. Haase ist auch einer der vier Keynote-Speaker auf dem HOGAST-Symposium.
Hendrik Haase hat sich früh mit dem Internet und seinen Möglichkeiten beschäftigt. Später kam die Gründung der „gläsernen“ Metzgerei Kumpel & Keule in Berlin dazu. „Wir hatten, noch bevor wir beim Notar waren, schon eine Facebook-Seite“, sagt er im Interview mit dem HOGAST-plus.punkt-Magazin. Transparenz gehörte und gehört zum Konzept von Kumpel & Keule, weil man zeigen möchte, dass Fleischerzeugung und -verarbeitung auch anders geht: fair zum Tier und zum Menschen.
Etwa gleichzeitig hat er das Buch „Crafted Meat“ über die neue Fleisch-Bewegung geschrieben, stellte das auch in den USA vor und kam so ins Silicon Valley, wo er Einblicke in die dortige Foodie-Szene bekam. „Ich fand das alles sehr faszinierend und auch futuristisch“, sagt er. „Die waren und sind viel weiter als wir hier in Europa.“
Den technologischen Wandel wollte er auf einer anthropologischen, soziologischen Ebene beschreiben. Deshalb tat er sich mit dem Wirtschaftsjournalisten Olaf Deininger zusammen. So entstand im Hof eines Kreuzberger Mietshauses während der Corona-Lockdowns das Buch „Food Code. Wie wir in der digitalen Welt die Kontrolle über unser Essen behalten“.
Haase und Deininger zitieren die Soziologin Deborah Lupton, die von einer „Mensch-App-Assemblage“ spricht, die gerade am Entstehen sei. Das Körperbild verändere sich, der Mensch vertraue den eigenen Sinnen, dem eigenen Bauchgefühl immer weniger, denn das erledige die Technik für ihn. Er entfremde sich von sich selbst. „Fitness-Apps regeln den Tagesablauf und die Essenszeiten, die Wahl der Lebensmittel und die Mengen auf dem Teller.
Food-Tracker entscheiden, welches Nahrungsmittel gerade am besten zur aktuellen Lebens- und Leistungsphase passt. Instagram-Kanäle von Influencern präsentieren schicke Gerichte oder kulinarische Neuentdeckungen. Und Food-Blogs erklären, wo man außerhalb der eigenen vier Wände unbedingt gegessen haben muss“, schreiben Deininger und Haase.#
Über 368 Millionen Wearables, also kleine technische Geräte, die man am Körper trägt, um ständig vernetzt zu sein, sind 2020 weltweit verkauft worden. 2024 sollen es 527 Millionen Stück sein. Der größte Umsatz wird in China erwartet. Und diese Geräte werden unseren Alltag beeinflussen, einfach weil sie bequem sind: „Soll ich dir eine Pizza bestellen? Du bekommst um 18:00 Uhr doch immer Hunger. Und ich habe mir gemerkt, dass ich dir in den letzten drei Jahren meistens am Dienstag eine Pizza bestellen durfte. Und heute ist Dienstag und es ist gleich 18:00 Uhr …“ Wer kann so ein Angebot schon abschlagen?
2013 beschloss der US-amerikanische Softwareentwickler Rob Rhinhart, keine normalen Lebensmittel mehr zu essen. Er wollte seine Ernährung als ein rein technisches Problem angehen und ein zeitsparendes Ernährungsprodukt entwickeln: eine Art Astronautennahrung.
Als Grundlage dafür diente die Ernährungsempfehlung des Landwirtschaftsministeriums der USA. So mixte er sich ein Pulver aus pflanzlichen Eiweißen, Kohlenhydraten, Vitamin-Präparaten und Ballaststoffen zusammen, das mit Wasser gemischt seine einzige Nahrung sein sollte. Nach einigen Wochen stellte er fest: Es reichte zum Leben und er fühlte sich gut dabei. Mit dieser Erfahrung gründete Rhinehart das Start-up Soylent. Rhineharts Pulvervollnahrung heißt heute Complete Food und immer mehr Menschen ernähren sich tat sächlich so, behaupten Haase und Deininger.
Aber damit nicht genug, es geht noch kontrollierter: Eine Analyse der Darmflora und ihrer Mikroben bieten Start-ups wie etwa Viome, uBiome, DayTwo und MyMicrobes an. Zu Beginn des Abonnements dieser digitalen Dienste schickt man eine Stuhlprobe ein, die analysiert wird. Auf Basis dieser Daten erstellen die Algorithmen dann einen individuellen, an die Verdauung angepassten Ernährungsplan und senden diesen persönlichen Food Code dann an die zugehörige App.
Solche technologischen Entwicklungen, die direkt in unsere Körper eingreifen, die man auch als Pille schlu-cken kann, werden „Biomarker“ genannt. Das autonome Diagnosewerkzeug soll etwa Reizdarmsyndrome oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen erkennen können.
Deininger und Haase erzählen auch von den beiden amerikanischen Tech-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly, die 2007 die Website quantifiedself.com gründeten. Zunächst fanden sich dort Gleichgesinnte aus der Region um San Francisco zusammen, um ihre Self-Tracking-Erfahrungen online auszutauschen. In den folgenden Jahren entstanden auf der ganzen Welt weitere Quantified-Self-Gruppen.
Seit 2011 finden internationale Konferenzen mit Anwendern, Entwicklern, Journalisten und Unternehmensvertretern aus der Gesundheitsbranche statt. So entsteht ein neues Körperbild und die Zahl der Menschen wächst, die sich und ihre Körper mithilfe von Daten aus DNA- oder Darmflora-Analysen, vernetzten Armbändern, Smartphones und anderen Gadgets selbst überwachen. „Im ersten Schritt unterstützen sie den Nutzer vielleicht lediglich bei seiner Selbstoptimierung“, sagt Andrea M. Matwyshyn, Professorin an der Stanford University in Kalifornien.
„In einem zweiten Schritt dienen sie möglicherweise dazu, sich mit anderen Nutzern zu messen oder sich gegenseitig abzugleichen: So gesellt sich zum Internet der Dinge, dem Internet der Maschinen, Kameras und Sensoren ein Internet der Körper. Die Grenze zwischen gesundem Lebensstil und nicht medizinischer Technologie beginnt bereits zu verschwimmen.“
„Was würde es für unsere Esskultur bedeuten, wenn unsere Lebensmittel, unseren Appetit, unser Bauchgefühl von Computercodes bestimmt werden?“, fragen Deininger und Haase. „Zerstört diese digitalisierte Esswelt mit ihrer Fixierung auf Effektivität, auf Mess- und Zählbarkeit das, was wir mit Essen verbinden, den Genuss, die Wertschätzung von Nahrungsmitteln, die Fähigkeiten der Zubereitung von Nahrungsmitteln, das soziale Miteinander?“
Deborah Lupton sieht im Zusammenschluss von „Big Food Data“, also der Auswertung vieler Daten über Lebensmittel und Ernährungsverhalten, eine Entwicklung zu immer umfassenderen und smarteren Funktionen und Services. Immer mehr Geräte liefern ihre Daten, um das perfekte Gericht für den Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt zu berechnen. „Food Literacy, also ‚die Fähigkeit, den Ernährungsalltag selbstbestimmt, verantwortungsbewusst und genussvoll zu bestimmen‘, wie es Margareta Büning-Fesel, die Leiterin des deutschen Bundeszentrums für Ernährung, definiert, wird zum kulturellen Klassenmarker“, schreiben die Autoren.
„Die Gefahr von KI ist nicht“, zitieren Deininger und Haase Janelle Shane, Autorin eines Buches über Künstliche Intelligenz, „dass die Technik gegen uns rebellieren wird, sondern dass sie genau das tut, was ihr aufgetragen wurde. Nur anders, als wir uns das vorgestellt haben. Die Frage wird daher sein, wie wir die Probleme formulieren, die die KI lösen soll. Und es ist wirklich sehr einfach, der KI das falsche Problem vorzugeben. Den Fehler merken wir dann oft erst, wenn es bereits zu spät ist.“
Wir dürfen gespannt sein auf seine Keynote am 19. Oktober 2022, wo er diese Punkte noch tiefgehender ausführen wird.
Fotos: Anika Mester
15. September 2022
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